Der Rhein wurde gezähmt, Landschaft und Leben veränderten sich
Die Arbeiten erstreckten sich über einen langen Zeitraum, damals im 19. Jahrhundert. Sie wurden hauptsächlich mit Schaufeln und Schubkarren ausgeführt. Die Rheinbegradigung öffnete, gerade in Basel, den Wasserweg für die Schifffahrt. Und sie brachte einen Strukturwandel mit sich, der alte Gewerbe verdrängte und neue Geschäfte schuf.
©Rhystadt/Christian Platz, Bilder: Andreas Schwald
Bevor er gezähmt wurde, ist der wilde Strom manchmal von Bett zu Bett gesprungen. Damit verwischte er die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland, die er ja markieren sollte. Es gab in der Region Ortschaften, die alle paar Monate die Seite wechselten. Hochwasser war für die Menschen, die am Oberrhein wohnten, ein grosses Thema. Das Wasser sorgte dafür, dass die feuchte Landschaft, die es umspülte, nie ganz fest gefügt war. Manchmal schluckten die Wassermassen ganze Dörfer, Inseln entstanden und wurden wieder weggespült, die ausgedehnten Ufergelände waren sumpfig – und damit Brutstätten für Krankheitsträger, Malaria war auch in Basel bis ins 19. Jahrhundert hinein ein grosses Thema. Gleichzeitig blühte am Oberrhein das Fischergewerbe. Das können wir heute im nördlichen Kleinbasel immer noch an architektonischen Details und Strassen- und Beizennamen ablesen, der Salm (oder Lachs) steht ja ebenfalls emblematisch für diesen Stadtteil. Lachs und Stör waren im Hauptstrom und seinen vielen Nebengewässern scharenweise vorhanden, sie stellten die Lebensgrundlage für weite Bevölkerungsteile dar. Auch die ansässigen Flösser und Bauern bedienten sich am Fischreichtum des Rheinwassers, für die eigenen Tische und Teller, was immer wieder zu Konflikten mit den Berufsfischern führte. Wohl auch deshalb waren die ganzen Angelegenheiten um dieses Gewerbe ab dem Mittelalter strengen gesetzlichen Regeln unterworfen, damals standen durchaus empfindliche Körperstrafen und sogar der Galgen im Strafrepertoire, das bei Verstössen zur Anwendung kam.
Johann Gottfried Tullas Plan
Der Gedanke, den Fluss zu zähmen, geisterte schon seit Jahrhunderten durch die Köpfe, punktuelle Massnahmen waren ja auch schon durchgeführt worden. Doch ein grosser strategischer und ausführbarer Plan wurde erst im frühen 19. Jahrhundert entworfen. Dies ist übrigens etwa zeitgleich in mehreren Ländern passiert, die von mächtigen Strömen durchflossen werden und über die notwendigen Mittel und Menschen verfügten. Man denke nur an das wahnwitzige aber erfolgreiche Projekt, geleitet vom späteren Bürgerkriegsgeneral Robert E. Lee, welches den Oberen Mississippi an die Schifffahrt anschloss. 1809 legte der Ingenieur Johann Gottfried Tulla (geboren 1770 in Karlsruhe, gestorben 1828 in Paris) einen ersten Plan für die Begradigung des Oberrheins vor. Die vorgesehenen Massnahmen waren eine künstliche Verkürzung des Stroms, der sich mäandernd durch die Landschaft schlängelte, sowie die Einengung grosser Nebenflüsse in ein Flussbett, der Rhein sollte begradigt und vertieft werden. Dies würde die ganze Landschaft am Oberrhein massiv verändern.
Beträchtliche Überzeugungskraft
Die Arbeiten, die Durchstiche, Grabungen, Dammbauten, würden in Deutschland, Frankreich und in der Schweiz stattfinden. Es brauchte Tullas ganze – und beträchtliche – Überzeugungskraft, um die Behörden der beteiligten Länder von den Vorteilen seiner Vision zu überzeugen. Eine vernichtende Flut im Jahr 1816 machte das Thema dann akuter. 1817 wurde mit den Arbeiten begonnen. Tulla würde das Ende des Projekts nicht erleben, die Begradigung war 1876 beendet. Sie war die Voraussetzung der Schiffbarmachung des Rheins bis nach Basel hinauf. Das erste Dampfschiff aus Deutschland erreichte unsere Stadt im Jahr 1832. Es dauerte dann aber fast noch ein Jahrhundert lang, bis in Kleinhüningen das erste Hafenbecken gebaut wurde. Der Zollbetrieb war bis dahin übrigens schon recht gut ausgebaut. 1886 wurde der Rhein durch die Mannheimer Akte jedoch zum internationalen Gewässer erklärt, bis hinauf nach Rheinfelden – und machte das Zollwesen auf dem Wasser obsolet.
Im Sinne der Gesellschaft bürgerlichen Jahrhunderts
Wenn heutzutage ein Projekt dieser Grössenordnung ausgerufen würde, länderübergreifend, mit drastischer Umgestaltung der Landschaft einhergehend, hätte dies wohl denkwürdige und langanhaltende politische Auseinandersetzungen mit höchst ungewissem Ausgang zu Folge. Tullas Massnahmen veränderten damals die Landschaft, im Sinne der Gesellschaft des sogenannten bürgerlichen Jahrhunderts, Vorteile für Handel, Gewerbe, trockene Felder waren die Wunschziele. Sie wurden erreicht. Interessant ist ja, dass gegenwärtig an vielen Orten wieder genau das Gegenteil gemacht wird – der Trend hin zu Renaturierung und zur Ansiedlung von Arten, die aus dem begradigten Oberrhein fast verschwunden waren gehört zum Zeitgeist unserer Tage.
Von bewaffneten staatlichen Ordnungskräften vertrieben
Verschwunden waren einst eben gerade der Stör und die Lachse, aber die Fischer waren nicht die Einzigen, die der Begradigung zum Opfer gefallen sind. Kleine Bauerngemeinden verloren ihre Lebengrundlage, während auf neu trockenem Land, grosse Felder und Gärten entstehen konnten, industriell bewirtschaftet. Manche Bauern- und Fischerfamilien, die ihr altes Leben nicht aufgeben konnten oder wollten, wurden von bewaffneten staatlichen Ordnungskräften vertrieben, bevor die Bautrupps anrückten: Armeen von Arbeitern, mit ihren Pferdewagen, ihren Spitzhacken, Schaufeln und Schubkarren, und die Begradigungspläne eines badischen Ingenieurs unter fast übermenschlichen Anstrengungen ausführten, zu tiefen Löhnen. Der Fluss wurde nutzbar gemacht, die Natur den Zwecken der Wirtschaft angepasst. So ist Basel zum «Tor der Schweiz» geworden.
Bilder: Andreas Schwald