06.05.2022

Rhystadt-Blog

«Die frässet deheim dr Kitt vo de Schybe», im Kleinbasel der Rueche

Gibt es in der minderen Stadt noch richtige «Rueche», die unentwegt «Hösch» sagen, nicht referenziell, sondern im natürlichen Sprachfluss? Hin und wieder mag man einen von ihnen antreffen, aber er dürfte schon einige Jährchen auf dem Buckel haben. Im 19. Jahrhundert war diese Basler Gattung ein – vielbeklagtes – hochmodernes Phänomen.

©Rhystadt/Christian Platz, Bilder: Andreas Schwald

In der Zeitspanne von 1835 bis 1940 hatte sich die Basler Bevölkerung versiebenfacht. Sie wuchs von gerade mal 23’000 auf 160’000 Menschen an. Einen derartigen Sprung in knapp hundert Jahren hatte es vorher nie gegeben. Die Stadt wuchs natürlich nicht von Innen, Zuwanderung war Ursache des Bevölkerungszuwachses. Wenn heute vom «alten Basel» die Rede ist, dann muss die Zeit vor Mitte des 19. Jahrhunderts gemeint sein: Eine Periode, in der die Stadt einen recht geschlossenen Organismus darstellte, in dem sich Bräuche, Dialekt, lokale Manieren und Marotten gut erhalten konnten – und gepflegt wurden, als identitätsstiftende Faktoren.

Es war schliesslich das Jahrhundert der Verwandlung, das diese Situation grundlegend veränderte – und neue Formen einer Basler Identität hervorbrachte, die wir heute wiederum als traditionelle, althergebrachte Formen betrachten. Dazu gehören die «Rueche», einst auch «Chnulleri» genannt, mit ihrer «Hösch»-Sprache. Das Feld, auf dem diese bemerkenswerte Spezies gedeihen und blühen konnte, war das Kleinbasel, im Speziellen die neuen nördlichen Quartiere, die im Zuge der Industrialisierung erbaut wurden.

Rechtsrheinisches Sündenbabel

In den besseren Kreisen des Grossbasels hatte dieses «Sindebaabel äänen am Rhy» einen üblen Ruf. Grundsätzlich wurde diesen Quartieren moralische Verkommenheit attestiert – wobei, dies nur als Randbemerkung, im oft gehörten alten Begriff «minderes Basel» noch keine Häme steckt, «minder» hiess halt einfach kleiner (mit der Zeit schlich sich dann aber schon ein verächtlicher Unterton in die Aussprache dieses Worts ein).

Diese moralische Empörung hatte natürlich – wie so oft – einen doppelten Boden. Nicht nur wenige der Herren aus der feinen Gesellschaft suchten auf der rechten Seite des Rheins ihr Vergnügen. Es lockten harte Getränke und «leichte Damen», im Sündenbabel konnte der Vermögende sich als Fürst unter Armen fühlen, oft genug wurde er aber auch verprügelt und ausgenommen, was dann wieder als eine Art poetische Gerechtigkeit interpretiert werden konnte. Jedenfalls stand das tiefe «Glaibasel» schon ab Mitte des bürgerlichen Jahrhunderts im (Ver)Ruf, ein Ort des rauen Strassenlebens und der «sittlichen Exzesse», des Verbrechens und der Schlägereien zu sein. Doch wer waren die Protagonisten?

«Chnulleri-Sprache»

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts zogen Seidenfabriken und Färbereien zunächst Baselbieter Heimarbeiter ins Glaibasel, und das scharenweise. Alsbald folgten Leute aus Bern und der Ostschweiz, aus Deutschland, aus dem Elsass, die dann einige Zeit später die Zuwanderer aus dem Tessin misstrauisch beobachteten, die nebst ihrer Sprache als Erste einen Hauch aus Südeuropa in den Mix brachten.

Die alteingesessenen Grossbasler Kreise (wobei die auch nicht gerade seit tausend Jahren am Rheinknie weilten) pflegten ihr «Baseldytsch», das in traditioneller Form heute nur noch von ganz wenigen Leuten – und an der Fasnacht – gesprochen wird, genauso, wie die «Chnulleri Sprache» gepflegt wurde. Letztere entsprang eben jenem kulturellen Schmelztiegel des minderen Basels und aufsässige Jugendliche auf der linken Seite des Rhein begannen (natürlich), das Idiom nachzuahmen, sehr zum Missfallen ihrer bürgerlichen Eltern sowie der Lehrerschaft.

Geprägt von Autos und Maschinen

Die Sprache, die sich im Kleinbasel entwickelte, war vom technischen Aufbruch der Zeit geprägt, von Autos und Maschinen. So pflegten die «Rueche» über den Körper einer Frau zu sagen: «Sy het e gueti Chassis». Nach der Arbeit waren sie: «Uf de Felge». Das Auto ist für den «Ruech» wiederum ein anthropomorphes Wesen und wie er selber hat es Durst und braucht regelmässig «Moscht». Einen Nagel «pfäfferet» der «Ruech» in die Wand oder er «jättet en yne».

Die Sprache der «Rueche» ist dramatisch, sie strotzt jedoch auch von Misstrauen. Wenn sie auf den Kinosesseln Platz genommen haben, sagen sie sofort: «Wenn goot dä Zauber ändlich los?» Wenn der Film dann läuft heisst, es nach kurzer Zeit: «Isch dä Schmätter bald fertig?» Interessant ist, dass das «ch» in diesem Soziolekt meistens gebrochen wird, wie in den meisten Schweizer Dialekten, nicht aber im «Baseldytsch». Gleichzeitig schlichen sich hochdeutsche Ausdrücke in die «Chnulleri»-(im Grossbasel würde man «Gnulleri» sagen)-Sprache. So sagt der «Ruech»: «Es rauscht im Dannewald. Är isch mitem Auti in e Muure gsaust, no isch e är mause gsi.» Auch Redewendungen wie «dasch e fettige Seich» oder «s isch einfach grausig» sind an die Schriftprache angelehnt.

Stichwort «Seich»: Der Ruech tendiert dazu, so ziemlich alles «e Seich» zu finden. Die Arbeit ist für ihn ein «Chrampf», als Lohn erhält er «Chlotz» oder «Pulver», denn er danach in der «Chnille» verpulvert. Und übrigens: Treffen sich zwei «Rueche» auf der Glaibasler «Gass» an, begrüssen sie sich als «Brueder» – auf dem gleichen Territorium nennen sich junge Männer heutzutage gegenseitig: «Bro’».

Im Unterbauch

Der «Ruech» wird manchmal auch «Stenz» genannt, dieses Wort stammt übrigens aus dem Rotwelschen, der Gaunersprache, und ist ebenso ein Produkt der Unterschicht. Der «Ruech» ist rau, vulgär und originell. Er macht nämlich gerne «dr Gloon», «rysst e Wälle» und macht dem «Servierbolze» schöne Augen. Seine Sprache stammt teilweise aus der Welt der Gauner und Betrüger, der Frauenwirte und Prostituierten. Frech hält er einer Welt, der er nichts zu Schulden glaubt, weil er sich sowieso auf der Verliererseite des Lebens sieht, den Spiegel vor.

Er ist davon überzeugt, dass die Reichen nur «Dräcksgschäft» machen, die Politiker alles «Schwauderi und Masseplauderi» sind, aber auch für die Armut im eigenen Umfeld hat er vor allem Hohn übrig: «Die frässet deheim doch dr Kitt vo de Schyybe, bi deene händ sogar d Lüüs Lüüs». So bewältigt der «Ruech» sein Leben im Unterbauch der bürgerlichen Gesellschaft, indem er sich gleich über alles stellt. Seine Sprache ist nicht wirklich zu vereinheitlichen, man kann ihr kein Regelwerk aufzwingen wie dem «Baseldytsch». Dafür ist sie zu lebendig, blitzschnell kann sie Elemente aus der Populärkultur, Begriffe aus anderen Sprachen adaptieren. Und am Wochenende ziehen «d Rueche» ihre beste «Büchse» an und gehen «uf d Gass». Wehe, wenn sie dort einer «staubig» macht, dann werden «Chnüppe» verteilt. Wenn die Drohung «mach dr Kopf zue, y schloo di pfundwyys us de Hosen, denn kasch grad Hörnli eifach lööse», ausgesprochen wird, dann gilt es ernst. Das Hörnli ist nämlich der Friedhof von Basel.

Erhalten, abgewandert, verschwunden

Einige dieser Wendungen haben sich bis heute erhalten, andere sind ins fasnächtliche Vokabular abgewandert oder komplett verschwunden. Die wahren Erben der «Chnulleri» sind ja die modernen Kids, die im nördlichen Kleinbasel leben, mit ihrem Soziolekt, der aus ganz verschiedenen sprachlichen und kulturellen Einflüssen gewirkt ist, der immer wieder neue Wortkreationen hervorbringt – und ebenfalls einen starken Kontrast zur Sprache darstellt, die man als das «offzielli Baseldütsch» unserer Tage bezeichnen kann. Einer Sprache, die ihrerseits mit dem Wörterbuch-«Baseldytsch» jener legendären (und teilweise vielleicht auch imaginären) alten Baslerinnen und Basler (jenen, die vor 1835 gelebt haben, eben) allerdings auch nicht mehr viel am Hut hat.